Funktionsdefizite messen

Bewertung in der persönlichen Umgebung oder in einer simulierten Kliniksituation

Die medizinische Rehabilitation hat die Aufgabe, den häufig chronisch kranken Menschen auf die Rückkehr in seine soziale und berufliche Umgebung vorzubereiten. Neben Beruf und Privatleben ist dies vor allem die Selbstständigkeit in der eigenen Wohnung. Es ist sinnvoll, die Fähigkeiten des Patienten in der häuslichen Umgebung zu kennen, um Therapieinhalte, -ziele, -dauer und Art der Entlassung individuell anzupassen und durchzuführen. Der Umgang mit den eigenen Utensilien zur passenden Tageszeit (z.B. ausziehen vor dem Schlafen) lässt am besten erkennen, ob Schwierigkeiten vorhanden sind, Hilfe oder therapeutische Umfeldanpassungen nötig sind. In der Rehabilitation sind die Fähigkeiten des Betroffenen und die Anforderungen seines Lebensumfeldes wesentliche Grundlage, um die Therapie auf Funktionsverbesserung ("Restitution"), Strategien zur Ausnutzung vorhandener Möglichkeiten ("Kompensation") und Anpassung der Umgebung ("Adaptation") auszurichten.

Die Beobachtung durch Klinikmitarbeiter in der eigenen Wohnsituation ist jedoch zu zeitaufwendig und wird - wenn sie möglich ist - lediglich im Hinblick auf bauliche Anpassungen durchgeführt. Daher versucht man, die häuslichen Anforderungen in der Klinik zu simulieren und den Patienten bei diesen Aktivitäten zu beurteilen. Dabei möchte man auch die Gründe für eventuelle Schwierigkeiten finden. Fähigkeiten, die in simulierten Situationen zu sehen sind, können abweichen von dem, was zu Hause möglich wäre. Manch einer kann mit der eigenen Kaffeemaschine umgehen und mit einer anderen nicht; jener wäre in simulierten oder standardisierten Situationen umständlicher und schlechter. Andere sind in der klinischen Beobachtungssituation sicherer, weil viele Störfaktoren wie z.B. Telefonklingeln wegfallen, weil die Umgebung schon erleichtert ist, z.B. Dusche ohne Stufe.

Subjektive Urteile oder objektive Testverfahren

Die individuelle Art der Einschätzung ist sehr individuell auf den Patienten abgestimmt, aber auch stark von subjektiven Urteilen des Untersuchers geprägt. Aus diesem Grund sollten zusätzlich standardisierte Tests angewendet werden, die klare Anweisungen für die Durchführung und Bewertung beinhalten. Die Resultate sind objektiv und vergleichbar mit anderen Patienten bzw. anderen Testzeitpunkten. Für die Kommunikation der an der Rehabilitation Beteiligten ist die Verwendung von standardisierten und bekannten Testverfahren leichter, als wenn jedes Detail einzeln erläutert werden muss. Darüber hinaus sind die Hausärzte, ambulant tätige Therapeuten oder Krankenkassen eindeutiger informiert.

Vermehrt werden auch Fragebögen eingesetzt, in denen der Patient Fragen zu seiner Lebensqualität und Zufriedenheit beantwortet.

Welche Aspekte von Gesundheit können durch einen Schlaganfall verändert sein?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Funktionsfähigkeit des Menschen in der "Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit - ICF" (2001) beschrieben. Danach umfasst die funktionale Gesundheit drei Bereiche in denen Störungen auftreten können:

Der 1. Bereich, "Körperfunktionen und Strukturen", umfasst die physiologischen Strukturen und Funktionen von Körpersystemen (einschließlich der psychologischen Funktionen), d.h. z.B. die Funktion der Muskulatur. Bei einem Schlaganfall kommt es zu einer Schädigung in diesen Systemen und dadurch z.B. zu einer Minderung der Sensibilität oder zu einer Lähmung;

der 2. Bereich, "Aktivitäten", beschreibt die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion). Bei einer Beeinträchtigung ist die betroffene Person eingeschränkt oder sogar unfähig Handlungen durchzuführen, z.B. Greifen, Anziehen);

der 3. Bereich, "Partizipation (Teilhabe) an Lebensbereichen", meint das sich Entfalten in einer oder das Einbezogensein in eine Lebenssituation, d.h. der betroffene Mensch kann beeinträchtigt sein in seiner sozialen Umgebung und in der Ausübung seiner Rollen, z.B. als Elternteil, Arbeitnehmer u.ä.

Beispiel

Eine ausgeprägte Lähmung des Beines (1. Bereich),
welches Treppensteigen (2. Bereich) unmöglich macht,
wirkt sich auch auf die Teilnahme des bisherigen sozialen Lebens (3. Bereich) aus, wenn z.B. ein Bekannter, ein Restaurant, der Zahnarzt nicht mehr aufgesucht werden können.

Die drei Bereiche stehen in vielfältiger Wechselwirkung zueinander, sind jedoch weder logisch noch zeitlich zwingend aufeinander aufbauend. Für die Dokumentation und Planung der rehabilitativen Maßnahmen sind Aussagen zu allen Komponenten von Gesundheit sinnvoll.

Globale und fokale standardisierte Tests

Standardisierte Tests beurteilen entweder im Groben mehrere Bereiche wie zum Beispiel Schlaganfallskalen (globale Testinstrumente, Screening); diese bestehen aus kurzen Aufgaben zur Motorik, zum Gedächtnis, zur Orientierung, des weiteren werden z.B. Reflexe und Sensibilität geprüft. Andere Tests sind auf einen ganz speziellen Aspekt beschränkt wie z.B. Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit (fokale Testinstrumente).

Häufig steht ein Testergebnis in einem statistisch belegten Zusammenhang mit anderen Testverfahren oder mit der reellen, tatsächlichen Selbstständigkeit. Ein Test zur Selbstständigkeit in der Klinik sagt nicht zwingend aus, ob jemand in der eigenen Wohnung ungefährdet und ohne Hilfe zurechtkommt, weil dies auch von anderen Faktoren abhängt, wie z.B. Motivation, Orientierung, ausreichendem Rangierplatz für den Rollstuhl etc. Wenn diese Testwerte in einem bewiesenen Zusammenhang stehen, erlauben sie jedoch eine Einschätzung.

Beispiel

Ein niedriger Wert des Barthel Indexes (siehe unten), welcher Unabhängigkeit von Hilfe oder Beobachtung in der Klinik untersucht (z.B. beim Waschen, Anziehen, Essen, beim Transfer, beim Treppesteigen, in der Kontinenz u.a.) sagt eine geringe Chance auf gute Funktionserholung und Entlassung nach Hause voraus, ebenfalls werden geringe Aktivitäten im Sozialleben, Haushalt und Freizeitverhalten erwartet (Wade, 1992).

ABER: Trotz aller Bestrebungen, die Qualität der Rehabilitationsmaßnahmen zu erhöhen und trotz der Fülle meist englischer und deutscher Tests, ist die Anwendung von standardisierten Tests in den Institutionen noch nicht flächendeckend üblich bzw. oft nur auf einen Aspekt des Patienten begrenzt.

Wozu werden die Testergebnisse verwendet?

  1. Kommunikation mit Patient und Angehörigen, innerhalb des therapeutischen Teams, mit den weiterbehandelnden Therapeuten und Ärzten (was kann er/sie? was will er/sie? was hat sich verändert? was erwarten wir? was ist das Hauptproblem?)
  2. Diagnostische Zwecke, Beschreibung von Fähigkeiten: Was kann er/sie? Wo sind Probleme heute? Ist ein spezielles Defizit vorhanden? Sind seine/ihre Leistungen altersgerecht, entsprechen sie der Norm?
  3. Verlaufsbeschreibung seiner/ihrer Funktionen und der Veränderungen. Sind Verbesserungen, die subjektiv beobachtet und beschrieben wurden auch in einer standardisierten Situation zu sehen?
  4. Rehabilitationszielfindung: manche Tests haben eine vorhersagende Aussagekraft (Prediktive Validität), d.h. sie können mit einer statistisch beschriebenen Wahrscheinlichkeit zukünftige Situationen vorhersehen wie z.B. kann der/diejenige in die eigene Wohnsituation zurückkehren oder muss er/sie in eine betreute Institution, wird der Arm Beweglichkeit erreichen u.ä. Diese Einschätzungen sind für den individuellen Patienten zu überprüfen, aber beeinflussen das Gesamtrehabilitationsziel, an dem das Team gemeinsam mit dem Patienten arbeitet.

Ausgewählte Literatur

Wade DT (1992) Measurement in Neurological Rehabilitation. Oxford University Press, Oxford, New York, Tokyo

World Health Organization (2001) International Classification of Functioning, Disability and Health, Genf

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